Corona-Krise: Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Durchführung laufender und die Einleitung neuer Vergabeverfahren?

Sowohl in Deutschland wie auch global wird derzeit das Wirtschaftsleben „zurückgefahren“, damit soziale Kontakte vermieden und eine Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie verlangsamt werden kann. Die absehbaren Folgen für die Durchführung öffentlicher Aufträge liegen auf der Hand: Bei Lieferaufträgen besteht das Risiko einer Waren- und Materialverknappung, z.B. weil Produktionskapazitäten heruntergefahren werden müssen oder nötiges Vormaterial nicht zur Verfügung steht. Bei Bauaufträgen besteht ebenfalls das Risiko einer eingeschränkten Materialverfügbarkeit und/oder -verteuerung. Sowohl bei Bauaufträgen als auch bei Dienstleistungsaufträgen sowie teilweise auch bei Lieferaufträgen, insbesondere wenn diese auch die Herstellung des Liefergegenstandes umfassen, besteht das Risiko, dass personelle Kapazitäten nicht zur Verfügung stehen (z.B. aufgrund von Quarantäneanordnungen) oder nicht genutzt werden können (z.B., weil in den Produktionsstätten kein ausreichender sozialer Mindestabstand gewahrt werden kann).

Ausführungsfristen, Kostenentwicklung und Kalkulationsrisiko

Ob Ausführungsfristen eingehalten werden können bzw. in welchem Ausmaß mit einer Verschiebung von Ausführungsfristen gerechnet werden muss, kann im Moment kaum prognostiziert werden. Auch ist mit erheblichen Unsicherheiten bei der Kostenentwicklung auf Auftragnehmerseite zu rechnen. An einem Auftrag interessierte Unternehmen trifft vor diesem Hintergrund ein nicht unerhebliches Kalkulationsrisiko. Es muss damit gerechnet werden, dass viele Interessenten aktuell vor der Abgabe eines Angebotes zurückscheuen werden oder sich das erhöhte Kalkulationsrisiko der Bieter in deutlich erhöhten Angebotspreisen widerspiegeln wird.

Rechtliche Problemstellungen und Handlungsoptionen

Öffentliche Auftraggeber bzw. dem Vergaberecht unterworfene Zuwendungsempfänger werden sich vielfach fragen, ob die Einleitung eines Vergabeverfahrens oder die Durchführung eines bereits eingeleiteten Vergabeverfahrens in der aktuellen Situation überhaupt Sinn macht. Auch stellt sich die Frage, welche vergaberechtlichen Maßnahmen in laufenden Vergabeverfahren zu treffen sind, um der aktuellen Situation angemessen Rechnung zu tragen.

Ausschluss von Angeboten, deren Preis das Budget des AG überschreitet

Soll ein Vergabeverfahren weiter durchgeführt werden, wird ein Auftraggeber im Regelfall ein Interesse daran haben, sicherzustellen, dass er Angebote ausschließen kann, die sein Budget überschreiten und das Vergabeverfahren entschädigungslos aufheben kann, wenn keine innerhalb seines Budgets liegende Angebote eingehen. Dies setzt jedoch entsprechende Regelungen in den Vergabebedingungen voraus. Fehlt es an solchen Regelungen, ist über eine Änderung der Vergabeunterlagen nachzudenken. Dies erfordert wiederum – je nach dem auf welchem Stand sich das Vergabeverfahren befindet – eine Verlängerung der Angebotsfrist und ggf. auch der Bindefrist oder eine Zurückversetzung des Vergabeverfahrens. Ist die Angebotsfrist bereits abgelaufen, stellt sich die Frage, inwieweit in einem solchen Fall eine Zurückversetzung und damit einhergehende Wiedereröffnung des Wettbewerbes möglich ist.

Ansprüche bei verzögerter Zuschlagserteilung und/oder Verschiebung von Ausführungsfristen, Möglichkeiten vertraglicher Risikovorsorge für den AG

Bieter, die bereits ein Angebot abgegeben haben, werden sich auch die Frage stellen, welche Ansprüche ihnen zustehen, wenn sich Ausführungsfristen verschieben und sich die mit der Vertragsdurchführung verbundenen Kosten erheblich verteuern. Der – an einer Kalkulationssicherheit interessierte – Auftraggeber wird in der Regel ein Interesse daran haben, solche Ansprüche auszuschließen. Übertreibt er es dagegen mit der Risikovorsorge und dem Ausschluss von Preisanpassungsansprüchen des Auftragnehmers, muss er damit rechnen, überhaupt keine annahmefähigen Angebote zu erhalten.

Ansprüche bei verzögerter Zuschlagserteilung

Der Bundesgerichtshof hatte im Zusammenhang mit Bauaufträgen bereits mehrfach Gelegenheit, über die Ansprüche zu entscheiden, die dem Auftragnehmer zustehen, der bei verzögerter Zuschlagserteilung einer Verlängerung der Bindefrist seines Angebotes zugestimmt hat. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung erfolgt die Zuschlagserteilung auch in einem solchen Fall in aller Regel auf das ursprüngliche Angebot mit den ursprünglich festgelegten Ausführungsfristen. Können diese bei Vertragsschluss nicht mehr eingehalten werden, kommt eine Anpassung der Ausführungstermine – nach Vertragsschluss – und eine damit einhergehende Anpassung der Vergütung entsprechend § 2 Abs. 5, 6 VOB/B in Betracht. Der Auftragnehmer ist zur Darlegung eines solchen Anspruchs gehalten, die Kosten darzustellen, die ihm bei der Vertragsdurchführung mit den ursprünglichen Ausführungsterminen entstanden wären und diesen die – höheren – Kosten gegenüberzustellen, die ihm bei der Vertragsdurchführung mit den geänderten Ausführungsterminen entstehen werden. Der Auftragnehmer hat jedoch nach der Rechtsprechung des BGH keine Ansprüche aus § 642 BGB bezüglich der Kosten für die Vorhaltung von personellen und sächlichen Produktionsmitteln während der im Vergabeverfahren eingetretenen Verzögerungen.

Ansprüche bei einer Verschiebung von Ausführungsfristen wegen pandemiebedingter Leistungsstörungen oder Behinderungen

Fraglich ist, ob und in welchem Umfang sich diese Rechtsprechung auf Fälle übertragen lässt, in denen der Zuschlag zwar innerhalb der ursprünglichen Bindefrist erteilt wird, sich jedoch aufgrund von Störungen im Zusammenhang mit der aktuellen Pandemie-Krise der Ausführungsbeginn verschiebt und/oder Ausführungsfristen verlängern. Eine Vergütungsanpassung nach § 2 Abs. 5, 6 VOB/B ist im Falle verzögerungsbedingt gestiegener Herstellungskosten wohl jedenfalls dann möglich, wenn die Verzögerung auf eine Anordnung des Auftraggebers zurückgeht (vgl. z.B. OLG München, Urteil vom 27. April 2016 – 28 U 4738/13 Bau –, juris). Häufig wird es an einer solchen Anordnung jedoch fehlen. Schadensersatzansprüche dürften im Regelfall daran scheitern, dass keine schuldhafte Pflichtverletzung des Auftraggebers vorliegt. Ob Ansprüche des Auftragnehmers aus § 642 BGB in Betracht kommen, ist eine Frage des Einzelfalls. Bei vielen aktuell denkbaren Störungen im Zusammenhang mit der Pandemie-Krise dürften solche Ansprüche daran scheitern, dass sich ein Annahmeverzug des Auftraggebers nicht feststellen lassen wird, weil der Auftragnehmer selbst nicht in der Lage ist, die vertraglich geschuldete Leistung zu erbringen (z.B. bei behördlich angeordneten Einschränkungen der Produktionstätigkeit etc.). Anders kann dies allerdings dann sein, wenn der Auftragnehmer zur Leistungserbringung grundsätzlich in der Lage ist, sich daran jedoch gehindert sieht, weil notwendige Vorleistungen nicht erbracht wurden. Zu denken ist insbesondere an die Verzögerung von Vorgewerken aufgrund von Störungen im Zusammenhang mit der aktuellen Pandemie-Krise. In einem solchen Fall liegen die Voraussetzungen für einen Anspruch aus § 642 BGB zunächst einmal vor; dass den Auftraggeber an der Verzögerung des Vorgewerkes kein Verschulden trifft, spielt grundsätzlich keine Rolle. Ob und in welchem Umfang dem Auftragnehmer eine Entschädigung zusteht, hängt dann davon ab, ob die Parteien den § 642 BGB wirksam abbedungen haben, soweit Störungen im Raum stehen, die auf die derzeitige Pandemie-Krise zurückzuführen sind. Diese Problematik stellt sich im Übrigen nicht nur bei Bauaufträgen, sondern auch bei Lieferaufträgen über vom Auftraggeber individuell für den Auftraggeber herzustellende Sachen. Eine ähnliche Konstellation kann sich auch bei Dienstleistungsaufträgen ergeben, die nicht dem Werkvertragsrecht unterliegen, da das Gesetz auch bei Dienstleistungsverträgen grundsätzlich dem Auftraggeber das Betriebsrisiko zuweist (vgl. § 615 BGB).

Unterbrechungen der Ausführung von mehr als drei Monaten

Bei Bauaufträgen ist zudem die Regelung des § 6 Abs. 7 VOB/B im Blick zu halten. Diese berechtigt beide Parteien zur Vertragsauflösung gegen Abrechnung und Bezahlung (nur) der erbrachten Leistungen, wenn die Arbeiten über einen länger als drei Monate andauernden Zeitraum unterbrochen werden und keine Partei die Unterbrechung zu vertreten hat. Dass es im Zuge der aktuellen Pandemie-Krise zu einer solchen Unterbrechung kommen kann, ist nicht fernliegend. Es stellt sich daher die Frage, ob § 6 Abs. 7 VOB/B eine interessensgerechte Lösung beinhaltet. Insbesondere für den Auftraggeber kann es höchst unbefriedigend sein, wenn ihm infolge einer Unterbrechung von mehr als drei Monaten die Auftragnehmer „abspringen“ und er bereits vergebene Gewerke neu vergeben muss; dies möglicherweise zu deutlich erhöhten Kosten und einhergehend mit einer deutlichen Verlängerung der Gesamtbauzeit.

Vertragliche Risikovorsorge sinnvoll

Der Auftraggeber, der während der Pandemie-Krise einen Auftrag vergeben will, ist gut beraten, explizite Regelungen für Fälle zu treffen, in denen er aufgrund von Störungen im Zusammenhang mit der Pandemie-Krise gehindert ist, die Leistung des Auftragnehmers entgegenzunehmen oder der Auftraggeber aufgrund der krisenbedingten Verzögerung von Vorleistungen des Auftraggebers oder anderer Unternehmer gehindert ist, seine Leistung zu erbringen.

Auch kann es für den öffentlichen Auftraggeber, der vergaberechtlich dazu verpflichtet ist, die VOB/B zu vereinbaren, sinnvoll sein, die Anwendung des § 6 Abs. 7 VOB/B auf Unterbrechungen, die auf die Pandemie-Krise zurückgehen, explizit auszuschließen. Dabei muss er allerdings im Blick haben, dass dies dazu führen kann, dass die VOB/B nicht mehr „als Ganzes“ vereinbart ist. Folge wäre, dass die einzelnen VOB/B-Regelungen im Streitfall einer richterlichen AGB-Inhaltskontrolle unterlägen, die dazu führen kann, dass statt einzelner Regelungen der VOB/B nun das BGB-Gesetzesrecht Anwendung finden würden.

Sprechen Sie uns an!

Haben Sie als öffentlicher Auftraggeber oder Zuwendungsempfänger die Absicht, derzeit ein Vergabeverfahren einzuleiten oder führen Sie derzeit ein laufendes Vergabeverfahren durch? Sind Sie Unternehmer und wollen sich an einem Vergabeverfahren mit einem Angebot beteiligen, sind jedoch unsicher, welche rechtlichen Umstände bei der Bewertung Ihres Kalkulationsrisikos zu berücksichtigen sind oder fragen sich, ob und inwieweit es Ihnen möglich ist, die Rechtslage zu Ihren Gunsten zu beeinflussen? Sprechen Sie uns gern an! Wir haben alle nötigen Maßnahmen getroffen, um auch vor dem Hintergrund der derzeitigen Pandemie-Krise einsatzfähig zu bleiben und Ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen!

Ansprechpartner

Roman Nocon

Öffentliches Recht und Vergabe, Bauen und Immobilien, Wirtschaft und Finanzen

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