EuGH: Betriebsübergang bei Trägerwechsel für den Betrieb einer städtischen Einrichtung

Insbesondere in der Krise oder im Insolvenzverfahren über das Vermögen eines Unternehmens stellt sich für Investoren und Mitbewerber die Möglichkeit, einen erhaltenswerten Teil des Unternehmens zu einem günstigen Preis zu übernehmen und fortzuführen oder in das eigene Unternehmen einzugliedern. In der Regel ist von dem Erwerber beabsichtigt, einen Unternehmensteil oder einzelne (wesentliche) Vermögensgegenstände (sog. assets) aus dem Unternehmen zu erwerben. Der Erwerb erfolgt aus haftungsrechtlichen Gründen regelmäßig durch Einzelrechtsnachfolge. Für die Entscheidung, ob und in welcher Form ein Unternehmensteil übernommen wird, spielen – auch außerhalb des Unternehmenskaufs in der Krise – gesellschaftsrechtliche und steuerrechtliche Fragestellungen eine Rolle, aber auch die Frage nach den in dem Unternehmen oder den Unternehmensteilen beschäftigten Arbeitnehmer, an deren Übernahme der Erwerber häufig kein Interesse hat. An der Vorschrift des § 613 a BGB kann eine Sanierung des sich in der Krise befindenden Unternehmens bzw. der Erwerb von Unternehmen oder Unternehmensteilen scheitern.

Die Problematik besteht, wie die Entscheidung des Europäische Gerichtshofs (EuGH) zur Betriebsübergangsrichtlinie (Richtlinie 2001/23/EG) vom 07.08.2018 („Colino Sigüenza“, C-472/16) verdeutlicht, aber nicht nur im Zusammenhang von Unternehmenstransaktionen mit oder ohne Sanierungsbezug, sondern kann auch bei Auslagerung von im Unternehmen selbst erbrachten Leistungen an einen externen Auftragnehmer oder Dienstleister oder der Privatisierung von Aufgaben der Daseinsvorsorge eine Rolle spielen.

Ausgangsverfahren

Die spanische Stadt Valladolid privatisierte im Jahr 1997 die städtische Musikschule und schrieb die dort zu erbringenden Dienste aus. Die Konzessionen wurden jeweils für einzelne Schuljahre vergeben. Seit dem Jahr 1997 und letztmalig für das Schuljahr 2012/2013 bis zum 31.08.2013 war dasselbe private Unternehmen erfolgreiche Bieterin. Die Verwaltung der Räumlichkeiten, des Mobiliars und der für die Erbringung der Dienstleistung benötigten Instrumente übernahm das Unternehmen von der Stadtverwaltung von Valladolid. Zudem wurde auch ein Teil der Arbeitnehmer, die noch von der Stadtverwaltung eingestellt worden waren, übernommen, darunter der Kläger.

Noch vor Ablauf der Konzession für das Schuljahr 2012/2013 stellte das Unternehmen den Schulbetrieb ab dem 31.03.2013 ein, da die Stadt Valladolid nicht die vertraglich vereinbarten Ausgleichszahlungen für zurückgegangene Schulgebühren geleistet hat. Das Unternehmen kündigte mit Schreiben vom 04.04.2013 der gesamten Belegschaft mit Wirkung auf den 08.04.2013 und gab die von der Stadtverwaltung bereitgestellten Sachmittel im April 2013 zurück. Im August 2013 vergab die Stadtverwaltung den Auftrag für den Betrieb der städtischen Musikschule für das Schuljahr 2013/2014 an eine neue private Betreiberin. Diese nahm seine Tätigkeit im September 2013 (Schuljahresbeginn) auf, wobei die Arbeitnehmer nicht übernommen wurden.

Der Kläger unterlag mit der u.a. gegen die Stadt und gegen die neue Betreiberin der Musikschule gerichtete Kündigungsschutzklage in erster Instanz. Gegen die Entscheidung legte der Kläger Rechtsmittel ein.

Vorlagefrage

Das Rechtsmittelgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH insgesamt drei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Gegenstand dieses Beitrags ist die erste Frage, mit der das vorlegende Gericht wissen will, ob ein Betriebsübergang vorliegen kann, wenn der Auftragnehmer eines Dienstleistungsauftrags für den Betrieb hier einer städtischen Musikschule, dem die Stadtverwaltung sämtliche für die Ausübung dieser Tätigkeit notwendigen Betriebsmittel zur Verfügung gestellt hat, diese Tätigkeit zwei Monate vor dem Ende des laufenden Schuljahrs einstellt, die Belegschaft entlässt, die ihm zur Verfügung gestellten Betriebsmittel an die Stadtverwaltung zurückgibt und die Stadt erst vier Monate später für das darauffolgende Schuljahr einen neuen Auftrag vergibt und dem neuen Auftragnehmer dieselben Betriebsmittel überlässt.

Entscheidung

Ausgangspunkt für die Beantwortung der (ersten) Frage durch den EuGH ist der Zweck und das mit der Betriebsübergangsrichtlinie verfolgte Ziel:  Die Gewährleistung der Kontinuität der im Rahmen einer wirtschaftlichen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnisse unabhängig von einem Inhaberwechsel. Der EuGH weist daher zunächst darauf hin, dass sich der Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie auf alle Fälle erstrecke, in denen im Rahmen vertraglicher Beziehungen die natürliche oder juristische Person, die für den Betrieb des Unternehmens verantwortlich ist und insoweit gegenüber den in dem Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmern die Arbeitgeberverpflichtungen eingeht, wechselt, und zwar ohne dass es darauf ankomme, ob das Eigentum an den Betriebsmitteln übertragen worden sei.

Übereinstimmend mit seiner bisherigen Judikatur führt der EuGH aus, dass entscheidend für einen Übergang im Sinne der Richtlinie sei, dass die betreffende Einheit ihre Identität bewahrt, was namentlich dann zu bejahen sei, wenn der Betrieb tatsächlich weitergeführt oder wieder aufgenommen wird. Die Feststellung der Identitätswahrung ist nach Rechtsprechung des EuGH im Einzelfall anhand der den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen und ihrer Gesamtbewertung zu treffen. Dazu gehöre namentlich

  • die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebs,
  • der Übergang oder Nichtübergang der materiellen Aktiva wie Gebäude und bewegliche Güter,
  • der Wert der immateriellen Aktiva zum Zeitpunkt des Übergangs,
  • die Übernahme oder Nichtübernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber,
  • der Übergang oder Nichtübergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen der vor und der nach dem Übergang verrichteten Tätigkeit und
  • die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeit.

Den verschiedenen Kriterien komme je nach der ausgeübten Tätigkeit und selbst nach den Produktions- oder Betriebsmethoden, die in dem betreffenden Unternehmen, Betrieb oder Betriebsteil angewendet werden, unterschiedliches Gewicht zu.

In Branchen, in denen es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankomme, könne ein Unternehmen die wirtschaftliche Einheit seiner Identität nicht wahren, wenn ihre Hauptbelegschaft vom angeblichen Erwerber nicht übernommen wird. Dagegen lasse sich in Branchen, in denen es im Wesentlichen auf die Ausrüstung oder Betriebsmittel ankomme, der Übergang einer ihre Identität bewahrenden Einheit im Sinne der Richtlinie 2001/23 nicht schon deshalb ausschließen, weil der neue Unternehmer nicht das Personal übernommen habe, das sein Vorgänger für die Durchführung derselben Tätigkeit eingesetzt hatte.

Auf den Fall im Ausgangsverfahren angewendet stellt der EuGH zunächst fest, dass die umfangreichen Betriebsmittel, wie die Musikinstrumente, die Einrichtungen und die Räumlichkeiten, offenbar unabdingbar für die Ausübung der fraglichen wirtschaftlichen Tätigkeit waren, bei der es sich um den Betrieb einer Musikschule handelte, und die Stadtverwaltung sämtliche Betriebsmittel, die sie dem früheren Auftragnehmer überlassen hatte, dem (auch) neuen Auftragnehmer zur Verfügung gestellt hat. Daraus ergibt sich für den EuGH, dass es sich um keine Tätigkeit zu handeln scheine, bei der es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankomme, so dass sich aus dem Umstand, dass das Nachfolgeunternehmen die Belegschaft nicht übernommen habe, nicht allein nicht schließen lasse, dass kein Unternehmensübergang vorliege. Für einen Unternehmensübergang spreche zudem der Umstand, dass der neue Auftragnehmer die Schüler des alten Auftragnehmers übernommen und die bis April 2013 von diesem erbrachten Dienstleistungen ab September 2013 fortgeführt habe. Dagegen sei für einen Unternehmensübergang nicht erforderlich, dass das Eigentum an den Betriebsmitteln übergehe.

Entsprechend seiner bisherigen Rechtsprechung sei der der Umstand, dass das Unternehmen zum Zeitpunkt des Übergangs vorübergehend geschlossen war und keine Arbeitnehmer beschäftigte, zwar ein Gesichtspunkt, der für die Entscheidung, ob eine noch bestehende wirtschaftliche Einheit veräußert worden ist, zu berücksichtigen sei. Der Umstand der vorübergehenden Unterbrechung der Tätigkeit für einige Monate und das daraus folgende Fehlen von Beschäftigten zum Zeitpunkt des Übergangs allein schließe dennoch nicht aus, dass die wirtschaftliche Einheit ihre Identität bewahrt hat und damit einen Unternehmensübergang im Sinne der Betriebsübergangsrichtlinie vorliege.

Auswirkungen auf die Praxis

Werden von einem Unternehmen, dessen wirtschaftliche Tätigkeit auf den ersten Blick durch die menschliche Arbeitskraft geprägt ist, materielle aber auch immaterielle Wirtschaftsgüter (Patente, Marken, Lizenzen, sonstige Schutzrechte, Know-how einschließlich Datenträger, wichtiger Unterlagen, Kundenstamm) oder Nutzungsverhältnisse übernommen, kann dies bereits die Annahme eines Betriebsübergangs rechtfertigen, wenn die übernommenen Wirtschaftsgüter für die Fortführung des Unternehmens, Betriebs oder Betriebsteils erforderlich sind. Der Anwendungsbereich des § 613 a BGB wird mit der Rechtsprechung des EuGH weiter ausgedehnt.

Zukünftig wird daher bei asset-deals im Dienstleistungssektor aber auch bei der Auslagerung von Leistungen im Bereich der Daseinsvorsorge oder bei privaten Unternehmen an einen externen (privaten) Auftragnehmer oder Dienstleister § 613 a BGB in den Focus rücken.

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