Corona-Krise: Rechtliche (Un-)Zulässigkeit von Ausgangssperren?

In den letzten Tagen wurden verschiedentlich von juristischer Seite Bedenken hinsichtlich der rechtlichen Zulässigkeit von Ausgangssperren zur Eindämmung des Coronavirus nach aktueller Rechtslage geäußert. Aus streng dogmatisch-akademischer Sicht sind diese Bedenken nicht unbedingt von der Hand zu weisen und mögen daher berechtigt sein. Eine praktikable Lösung der akuten Situation bieten sie gleichwohl nicht und tragen daher eher zur Unsicherheit bei. Die folgende Einschätzung beruht auf dem aktuellen Kenntnisstand (Sonntag, 22.03.2020, 12:00 Uhr).

Aber von Anfang an…

Die bisherigen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, wie z.B. Veranstaltungsverbote und Ansammlungsbeschränkungen, wurden seitens der zuständigen Behörden auf § 28 Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) gestützt. § 28 Abs. 1 IfSG enthält in seinem Satz 1 eine sog. Generalklausel. Demnach trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG ermächtigt unter denselben Voraussetzungen zudem ausdrücklich zu Veranstaltungs- und Ansammlungsverboten sowie entsprechenden Beschränkungen und darüber hinaus zur Schließung von bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen, wie z.B. Badeanstalten, Kindertageseinrichtungen und Schulen. Ferner sieht § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG auch vor, dass die zuständige Behörde Personen verpflichten kann, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von der Behörde bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind. Dass in der aktuellen Corona-Situation § 28 Abs. 1 IfSG rechtmäßig zur An-wendung gebracht werden kann und insbesondere Veranstaltungsverbote darauf gestützt werden können, ist zwischenzeitlich in einigen wenigen veröffentlichten verwaltungsgerichtlichen Eilentscheidungen bestätigt worden.

Das Problem mit der Ausgangssperre

Hinsichtlich der nun in Rede stehenden und in einigen Bundesländern (Bayern, Saarland) bereits angeordneten Ausgangssperren, besser eigentlich Ausgangsbeschränkungen, stellt sich die Frage, ob auch diese von § 28 Abs. 1 IfSG abgedeckt sind. Insofern wird von juristischer Seite kritisch argumentiert, dass § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG, der – wie ausgeführt – der zuständigen Behörde die Befugnis eröffnet, Personen das Verlassen des Ortes, an dem sie sich befinden, zu verbieten, nicht bezogen auf Ausgangsbeschränkungen einschlägig sei. Das hat einiges für sich. Denn Ausgangsbeschränkungen sind darauf angelegt, dass die Menschen zu Hause bleiben. § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG bezieht sich aber gerade nicht ausdrücklich auf die häusliche Wohnung, sondern auf einen unspezifischen Ort, der nicht verlassen werden darf. Hinzu kommt, dass nur der Ort, an dem sich die betroffene Person aktuell befindet, nicht verlassen werden darf, was naturgemäß nicht unbedingt die heimische Wohnung sein muss. Außerdem bezweckt § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG ein nur sehr kurzweiliges Verbot, den aktuellen Ort nicht zu verlassen, was darin zum Ausdruck kommt, dass das jeweilige Verbote kraft Gesetzes bis zu dem Zeitpunkt befristet ist, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen, also anderweitige Schutzvorkehrungen, durchgeführt sind. Dass die weitere von § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG ermöglichte Anordnung, einen bestimmten Orte nicht zu betreten, etwas anderes ist als das Gebot die eigene Wohnung nur aus triftigem Grund zu verlassen, liegt auf der Hand.

Es bleibt also nur die allgemeine Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als mögliche Rechtsgrundlage für Ausgangsbeschränkungen. Insofern wird kritisiert, angesichts der grundrechtlichen Tragweite von Ausgangsbeschränkungen, die unbestreitbar gegeben ist, müsse eine rechtlich bestimmte, jedenfalls bestimmtere gesetzliche Grundlage als eine allgemeine Generalklausel vorhanden sein. Mit anderen Worten: Die Generalklausel in ihrer Allgemeinheit, die letztlich in der gegebenen Sachlage alle „notwendigen Schutzmaßnahmen“ ermöglicht, müsse vom Gesetzgeber in ihren Voraussetzungen und ihrer Tragweite konkreter gefasst werden. Der Gesetzgeber müsse genau vorherbestimmen, unter welchen Voraussetzungen, in welcher Zeitspanne und mit welchen Ausnahmeregelungen, etc. eine Ausgangsbeschränkung rechtlich zulässig sei.

Einschätzung

Streng dogmatisch ist diese Auffassung grundsätzlich richtig. Der Gesetzgeber muss Tragweite und Grenzen von Maßnahmen, die die Grundrechte massiv beeinträchtigen, selbst bestimmen und darf dies nicht der vollziehenden Verwaltung überlassen. Ich persönlich teile daher auch die rechtlichen Bedenken, ob Ausgangsbeschränkungen künftig noch einmal auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden könnten. Insofern sollte der Gesetzgeber in diesem Punkt also dringend nachsteuern.

In der aktuellen Akutsituation sehe ich allerdings keine zwingende Notwendigkeit dafür, sofort ein Gesetzgebungsverfahren anzustrengen, dessen Zeitbedarf und Ausgang – anders als bei der Erleichterung der Beantragung von Kurzarbeitergeld – im Ausgangspunkt offen erscheint. Denn nach den bereits verlautbarten politischen Stimmen, kann – Stand heute – nicht ohne weiteres mit einer schnellen politischen Mehrheit für die gesetzliche Verankerung von Ausgangsbeschränkungen gerechnet werden.

Was also tun?

Von den Fachleuten werden Ausgangsbeschränkungen durchaus als probates Mittel zur weiteren Eindämmung des Virus angesehen, wenngleich etwa das Robert-Koch-Institut bis heute keine entsprechende Empfehlung abgegeben hat. In anderen europäischen Ländern gelten bereits flächendeckende Ausgangsbeschränkungen. Zumindest als letztes Mittel sind daher auch in Deutschland Ausgangsbeschränkungen in Betracht zu ziehen.

Das geltende Recht kennt Ausgangssperren bzw. Ausgangsbeschränkungen jedenfalls expressis verbis nicht. Den Katastrophenfall auszurufen, um dann die in den Katastrophenschutzgesetzen der Länder geregelten Möglichkeiten zu nutzen, wäre zwar grundsätzlich denkbar. Auch dort sind Ausgangsbeschränkungen aber nicht ausdrücklich vorgesehen. Außerdem ist dieser weitereichende Schritt der Ausrufung des Katastrophenfalls aus meiner Sicht auch rechtlich nicht geboten.

Das geltende Recht sieht in verschiedenen Gesetzen – wie etwa in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG – Generalklauseln mit unbestimmten Rechtsbegriffen zur Gefahrenabwehr vor. Generalklauseln dienen dazu, dass das Recht und die vollziehenden Behörden möglichst auf alle sich bietenden Gefahrensituationen angemessen reagieren können. Es ist schlechterdings nicht möglich, jeden zum Zeitpunkt des Erlasses eines Gesetzes sich künftig ergebenden Einzelfall abzusehen und abschließend einer gesetzlichen Regelung zuzuführen. Die damit verbundene und notwendige Offenheit des Rechts in Gestalt von Generalklauseln nimmt die Rechtsprechung hin, weil Inhalt und Gegenstand der in den Generalklauseln verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe zum Teil in langer Rechtsprechungstradition hinreichend konturiert und damit für den Rechtsunterworfenen absehbar sind.

Dies ist im Falle des Coronavirus selbstredend anders. Mit einer solchen Pandemie hat wohl niemand zum Zeitpunkt des Erlasses des IfSG ernsthaft gerechnet. Ausgangsbeschränkungen und Ausgangssperren sind tatsächliches und rechtliches Neuland. Auch vor solchen Situationen darf sich das Recht allerdings nicht ergeben, damit der Staat handlungsfähig bleibt. Es ist daher in der Vergangenheit bereits anerkannt worden, dass der Staat auf der Grundlage von Generalklauseln auch in grundrechtsrelevanten Bereichen zumindest für eine Übergangszeit auf neuartige Gefahrensituationen im Sinne der Effektivität der Gefahrenabwehr reagieren darf und gegebenenfalls auch muss.

Mit anderen Worten: In der aktuellen Akutsituation dürfen meines Erachtens Ausgangssperren und Ausgangsbeschränkungen auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt werden, auch wenn derartige Maßnahmen dort nicht ausdrücklich verankert sind, es kein Vorbild gibt und damit tiefgreifende Grundrechtseinschränkungen verbunden sind. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Staat auf die Krise überhaupt nicht zeitnah und angemessen reagieren kann, was eine schier unerträgliche Situation bedeuten würde, die das Recht – auch in einem Rechtsstaat – nicht zulassen darf. Das notwendige Korrektiv wird in den strengen Vorgaben der Verhältnismäßigkeit zu sehen sein.

Für den Fall einer sich wiederholenden Pandemie oder einer wiederaufflammenden Corona-Welle im kommenden Winter oder im nächsten Jahr wird aber gleichwohl eine ausdrückliche Rechtsgrundlage auch für Ausgangsbeschränkungen erforderlich, jedenfalls ratsam sein, weil die (potenzielle) Notwendigkeit von Ausgangsbeschränkungen dann absehbar ist und die Situation dann nicht mehr als neuartig charakterisiert werden kann. Alles Vorstehende steht unter dem Vorbehalt der laut FAZ-Meldung von gestern (21.03.2020) vom Bundesgesundheitsministerium angekündigten Änderung des IfSG. Der entsprechende Entwurf ist jedenfalls noch nicht allgemein verfügbar veröffentlicht. Wird im geänderten IfSG eine ausdrückliche Rechtsgrundlage auch für Ausgangsbeschränkungen vorgesehen, erübrigt sich die rechtliche Problematik ohnehin. Aber auch wenn keine entsprechende Rechtsgrundlage vorgesehen ist, wird man wohl attestieren müssen, dass der Gesetzgeber in Kenntnis der Problematik von einer entsprechenden Regelung abgesehen hat, was dazu führen dürfte, dass meine vorstehende Argumentation zugunsten der Zulässigkeit von Ausgangsbeschränkungen nicht mehr tragfähig ist. Jedenfalls bis zu einer Entscheidung über die Änderung des IfSG erscheint die Argumentation aus meiner Sicht aber weiterhin richtig und notwendig. Gleichwohl ist der Gesetzgeber gut beraten, die wohl beabsichtigte Änderung des IfSG zur Aufnahme einer konkreten Regelung zu nutzen.

Verhältnismäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen

Alles staatliche Handeln steht unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Es muss geeignet, erforderlich und angemessen sein. Angesichts der aktuellen Notsituation mit tausenden Kranken und Krankheitsverdächtigen sowie einer Vielzahl von Todesopfern habe ich keine Bedenken, dass Ausgangsbeschränkungen verhältnismäßig ausgestaltet werden können. Sie sind nach den fachlichen Verlautbarungen geeignet, die Ausbreitungsdynamik zu vermindern. Gleichgeeignete weniger einschneidende Maßnahmen wären jedenfalls dann nicht ersichtlich, wenn alle sonst zu Gebote stehenden Maßnahmen ohne nennenswerten Erfolg ausgeschöpft worden sind, was sich aktuell – auch mit Blick auf das Freizeitverhalten vieler Bundesbürger in der letzten Woche – abzuzeichnen scheint, gleichwohl aber einer Einzelfallbetrachtung vor Ort bedarf. Im Rahmen der Angemessenheit müssen die privaten Interessen des Einzelnen aus meiner Sicht grundsätzlich hinter dem hochwertigen Ziel der Eindämmung von massiven Gesundheitsgefahren zurückstehen, zumal Ausgangsbeschränkungen auch dem Schutz jedes einzelnen Betroffenen dienen. Dies wird jedenfalls dann zu gelten haben, wenn Ausgangsbeschränkungen zeitlich befristet werden und die aktuell in Rede stehenden Ausnahmen des Verlassens der Wohnung aus triftigem Grund, wie z.B. für Wege zur Arbeit, zum Einkauf oder zum Arzt, vorgesehen werden. Dass sich die Bürger weitgehend daran halten, zeigen die Bilder aus Bayern von gestern.

Rechtsschutz gegen Ausgangsbeschränkungen

Wie jedes andere staatliche Handeln auch wäre die Anordnung von Ausgangsbeschränkungen selbstverständlich verwaltungsgerichtlich überprüfbar, in erster Linie im Eilverfahren. Im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren findet eine summarische Prüfung statt. Das heißt, dass in der Regel schwierige Rechtsfragen im Rahmen eines Eilverfahrens nicht abschließend geklärt werden und stattdessen lediglich eine Interessenabwägung stattfindet. Es spricht vieles dafür, dass es sich bei der Frage, ob Ausgangbeschränkungen auch in ihrer verfassungsrechtlichen Tragweite auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden können, jedenfalls nicht um eine einfache und innerhalb kürzester Zeit verbindlich zu beantwortenden Frage handelt, sodass es nicht ausgeschlossen erscheint und aus meiner Sicht auch naheliegen dürfte, dass die Gerichte sich hier auf eine bloße Interessenabwägung zurückziehen, wohl mit dem Ergebnis, das der Gesundheitsschutz die individuellen Interessen überwiegt.

Im Übrigen sind Maßnahmen nach § 28 IfSG kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Für den gerichtlichen Prüfungsmaßstab im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren bedeutet dies, dass bei nach summarischer Prüfung offenen Erfolgsaussichten eines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dieser Antrag scheitern muss. Denn für den Fall des offenen Ausgangs einer Klage in der Hauptsache greift die gesetzliche Wertung der sofortigen Vollziehbarkeit. Wenn ein Verwaltungsgericht im Eilverfahren im Rahmen seiner summarischen Prüfung sich also der nicht einfach zu beantwortenden Rechtsfrage, ob Ausgangssperren auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden können überhaupt annimmt und nicht lediglich eine Interessenabwägung vornimmt, so spricht doch jedenfalls vieles dafür, dass das Ergebnis der Rechtsprüfung kaum zu einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit führen wird. Nur dann aber wäre dem einstweiligen Rechtsschutzantrag stattzugeben.

Folgen für die kommunale Praxis

Für die kommunale Praxis ist zunächst festzuhalten, dass die im Wege des ministeriellen Erlasses vorgegebenen Ausgangsbeschränkungen regelmäßig ohnehin durch die Kommunen in Gestalt von Allgemeinverfügungen implementiert und damit rechtsverbindlich umgesetzt werden müssen, wobei insoweit von Bundesland zu Bundesland Besonderheiten bestehen können, auf die hier nicht abschließend eingegangen werden kann. Ordnet die Kommune eine Ausgangsbeschränkung an, trägt sie im Falle der Anfechtung dieser Maßnahme auch das Prozessrisiko. Ob allerdings in der aktuellen Situation ein erhebliches Prozessrisiko wirklich besteht, erscheint fraglich, wenngleich rechtliche Bedenken auch nicht von vornherein ausgeräumt werden können. Fraglich ist zudem, ob die aktuelle Faktenlage ein Absehen von Ausgangsbeschränkungen überhaupt zulässt, völlig unabhängig von späteren gerichtlichen Entscheidungen. Dies müssen allerdings die entsprechenden medizinischen Fachleute und Virologen beurteilen.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf www.kommunal.de.

Ansprechpartner

Janosch Neumann

Öffentliches Recht und Vergabe, Bauen und Immobilien

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