Keine Rechtmäßigkeitsprognose hinsichtlich des zu erwartenden Planfeststellungsbeschlusses im Verfahren der vor-vorzeitigen Besitzeinweisung

Infolge des Angriffskrieges der Russischen Föderation auf die Ukraine haben sich die geo- und energiepolitischen Randbedingungen für Deutschland und Europa grundlegend und dauerhaft verändert. Um die Versorgungssicherheit mit Gas weiterhin gewährleisten zu können, mussten die Bezugsquellen schleunigst diversifiziert werden. Hierzu wurde in Rekordzeit eine neue Importinfrastruktur für LNG errichtet und in Betrieb genommen. Diese besteht aus den LNG-Terminals, zunächst in der schwimmenden Ausführung als Floating Storage and Regasification Units (FSRU), sowie den entsprechenden Anbindungsleitungen, die die Einspeisung des anlandenden LNG in das Fernleitungsnetz überhaupt erst ermöglichen. Zur notwendigen Verfahrensbeschleunigung hat das Gesetz zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases (sog. LNG-Beschleunigungsgesetz – LNGG) beigetragen. Hierzu gehört auch, dass der Vorhabenträger die Durchführung des Verfahrens zur vorzeitigen Besitzeinweisung gemäß 44b EnWG für LNG-Anbindungsleitungen bereits nach Ablauf der Einwendungsfrist, also nicht erst – wie von § 44b Abs. 1a EnWG vorgesehen – nach Abschluss des Anhörungsverfahrens und auch nicht erst – wie in der Grundkonstellation von § 44b Abs. 1 EnWG vorgesehen – nach Vorliegen eines vollziehbaren Planfeststellungsbeschlusses, verlangen kann. Es geht also um eine deutliche Vorverlagerung.

Mit Beschluss vom 10.02.2023 hat das BVerwG in einem einstweiligen Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO erstmals zu einer Besitzeinweisung für eine LNG-Anbindungsleitung entschieden. Konkret ging es um die Energietransportleitung 180 (Brunsbüttel-Hetlingen). Zu dieser Entscheidung haben wir an dieser Stelle in einem früheren Beitrag bereits berichtet. Am 26.10.2023 hat das BVerwG nun auch die Hauptsachentscheidung getroffen, welche Gegenstand dieses Beitrags ist. Neben der Bestätigung, teilweise auch Vertiefung der Argumentation im einstweiligen Beschluss vom 10.02.2023 sind im Folgenden vor allem zwei Aspekte hervorzuheben.

Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Gegenstand der Entscheidung des BVerwG ist die Klage eines Eigentümers und eines Pächters landwirtschaftlicher Flächen, welche für das Leitungsbauvorhaben in Anspruch genommen wurden. Beide wendeten sich gegen den Besitzeinweisungsbeschluss, mit dem die Vorhabenträgerin für den Bau und Betrieb der Anbindungsleitung Brunsbüttel-Hetlingen in den Besitz von Teilen der Grundstücke eingewiesen worden war. Der Besitzeinweisungsbeschluss war nach Ablauf der Einwendungsfrist als sog. vor-vorzeitige Besitzeinweisung auf der Grundlage von § 8 Abs. 1 Nr. 3 LNGG i.V.m. § 44b EnWG ergangen. Ein Planfeststellungsbeschluss für das Leitungsbauvorhaben lag also noch nicht vor.

Zur Begründung ihrer Klage rügten die Kläger die Zerschneidung ihrer Grundstücke und der darauf befindlichen Drainagen durch die Leitung. Zudem sei eine andere Trassierung nicht geprüft worden. Die geplante Leitung verhindere die Errichtung einer Photovoltaikanlage. Der sofortige Baubeginn sei nicht geboten. Die vorgebrachte Eile sei übertrieben, da die Lage am Gasmarkt stabil sei. Zudem hätten sie sich einer Überlassung der betroffenen Grundstücke nicht grundsätzlich verweigert, sondern lediglich Nachfragen bezüglich einer Trassenverlegung gehabt. Die durchgeführte Online-Konsultation sei nicht zulässig gewesen.

Das BVerwG hat die Klage abgewiesen.

Soweit sich das Gericht mit der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs befasst, ergeben sich hieraus im Vergleich zur einstweiligen Entscheidung keine neuen Erkenntnisse (vgl. zum Inhalt der einstweiligen Entscheidung unseren früheren Beitrag). Insbesondere verweise § 44b Abs. 7 Satz 2 EnWG ausdrücklich auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO und damit auf Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte. Auch soweit das BVerwG an seiner erstinstanzlichen Zuständigkeit festhält, ergibt sich im Vergleich zu seinem Beschuss vom 10.02.2023 nichts wesentlich Neues. Ergänzend zu seiner bisherigen Argumentation verweist das Gericht lediglich noch darauf, dass von einem offensichtlichen Redaktionsversehen des Gesetzgebers auszugehen sei, wenn § 12 Satz 2 Nr. 1 LNGG nur den vorzeitigen Baubeginn, nicht aber auch die vorzeitige Besitzeinweisung explizit benennt.

Der angefochtene Besitzeinweisungsbeschluss sei rechtmäßig und verletze die Kläger nicht in ihren Rechten. Unter formell-rechtlichen Gesichtspunkten habe die von § 44b Abs. 2 EnWG vorgeschriebene mündliche Verhandlung über den Besitzeinweisungsantrag gemäß § 5 Abs. 2 PlanSiG durch eine Online-Konsultation ersetzt werden dürfen.

Der sofortige Baubeginn sei gemäß § 44b Abs. 1 Satz 1 EnWG geboten gewesen. In diesem Punkt vertieft das BVerwG seine Argumentation aus dem einstweiligen Beschluss (vgl. zum Inhalt der einstweiligen Entscheidung unseren früheren Beitrag). Der sofortige Baubeginn sei geboten, wenn das Interesse der Allgemeinheit oder des Vorhabenträgers an dem sofortigen Beginn der Ausführung des Energieleitungsvorhabens das private Interesse des Betroffenen, von der Besitzeinweisung verschont zu werden, überwiegt. Ein solches Überwiegen sei in der Regel dann anzunehmen, wenn dem Vorhaben eine gewisse Dringlichkeit innewohnt, wobei die Bedeutung des Vorhabens Indizwirkung entfalten könne. Die besondere Dringlichkeit der Vorhaben nach dem LNG-Beschleunigungsgesetz sei in § 3 Satz 1 LNGG durch den Gesetzgeber festgelegt worden. Im Übrigen habe der Beklagte im Besitzeinweisungsbeschluss ausführlich dargelegt, dass die Bauarbeiten nach der Terminkette unmittelbar bevorstünden. Außerdem habe er das erhebliche öffentliche Interesse am baldigen Bau der Energieleitungen vor dem Hintergrund der Einstellung russischer Gaslieferungen hervorgehoben. Der Dringlichkeit stehe nicht entgegen, dass die deutschen Gasspeicher inzwischen hinreichend gefüllt seien. Denn die Dringlichkeit des Baus der Gasversorgungsleitung komme gerade mit Blick auf künftige Heizperioden zur Geltung. In diesem Zusammenhang betont das BVerwG auch, dass es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Besitzeinweisungsbeschlusses auf den Zeitpunkt seines Erlasses ankomme. In diesem Zeitpunkt sei zu Recht von einer Krise der Gasversorgung ausgegangen worden.

Für die Weigerung zur freiwilligen Besitzüberlassung im Sinne von § 44b Abs. 1 Satz 1 EnWG genüge es, wenn der Vorhabenträger den Betroffenen durch ein entsprechendes Angebot die Möglichkeit eröffnet, den Besitz unter Vorbehalt sämtlicher Entschädigungsansprüche zu überlassen, und diese das Angebot nicht annehmen. Insofern wiederholt das BVerwG seine Ausführungen im Beschluss vom 10.02.2023.

Schließlich seien auch die Anforderungen an die Vollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses erfüllt. Wegen § 8 Abs. 1 Nr. 3 LNGG könne der Vorhabenträger bereits nach Ablauf der Einwendungsfrist die Durchführung des Besitzeinweisungsverfahrens verlangen. Diesbezüglich geht das BVerwG über seine Ausführungen im einstweiligen Beschluss vom 10.02.2023 hinaus und stellt zusätzlich fest, dass die Möglichkeit der vor-vorzeitigen Besitzeinweisung keine verfassungswidrige Beeinträchtigung des Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG bewirke. Es würden keine vollendeten Tatsachen geschaffen oder die Möglichkeit zu effektivem Rechtsschutz genommen, weil die Wirksamkeit des Besitzeinweisungsbeschlusses wegen der nach § 44 Abs. 1a Satz 3 EnWG erforderlichen aufschiebenden Bedingung einen vollziehbaren Planfeststellungsbeschluss voraussetzt, der das Ergebnis des Besitzeinweisungsbeschlusses bestätigt. Die vor-vorzeitige Besitzeinweisung nehme somit nicht die Rechtsfolgen der Planfeststellung vorweg, sondern ermögliche es nur, das Verfahren im Vorfeld zu beschleunigen. Aus dieser Konstellation ergebe sich auch, dass die Eigentumsgrundrechte betroffener Grundstückseigentümer hinreichend dadurch gewahrt werden, dass sie im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens geprüft und in die Abwägung eingestellt werden. Einer doppelten Prüfung bedürfe es daher nicht.

Auch darüber hinaus bedürfe es keiner auf den zu erwartenden Planfeststellungsbeschluss bezogenen prognostischen Rechtmäßigkeitsprüfung durch die Enteignungsbehörde. Eine Doppelzuständigkeit von Planfeststellungsbehörde und Enteignungsbehörde in Bezug auf die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eines Planfeststellungsbeschlusses laufe dem Beschleunigungszweck zuwider. Außerdem gebiete es das Rechtsstaatsprinzip, Doppelzuständigkeiten zu vermeiden.

Die Einwände der Kläger gegen die Planfeststellung als solche seien wegen § 44b Abs. 1 Satz 3 EnWG für die Besitzeinweisung ohne Belang.

Ergänzend weist das BVerwG in seiner Entscheidung darauf hin, dass auch bei Durchführung eines vor-vorzeitigen Besitzeinweisungsverfahrens der spätere Erlass des vollziehbaren Planfeststellungsbeschlusses berücksichtigt werden können muss. Es sei mit der grundrechtlichen Stellung des Vorhabenträgers nicht vereinbar, eine vor-vorzeitige Besitzeinweisung aufzuheben, wenn die reguläre Besitzeinweisung aufgrund eines neuen Antrags sofort zu gewähren wäre. Das führt im Ergebnis dazu, dass ein Besitzeinweisungsbeschluss, welcher die Voraussetzungen von § 44b Abs. 1a EnWG und/oder § 8 Abs. 1 Nr. 3 LNGG nicht erfüllt, nach Erteilung des vollziehbaren Planfeststellungsbeschlusses quasi „rechtmäßig wird“, wenn die Voraussetzungen von § 44b Abs. 1 EnWG vorliegen.

Einordnung in den rechtlichen Kontext

Wie bereits bei der Einordnung des einstweiligen Beschlusses des BVerwG vom 10.02.2023 ausgeführt, ergeben sich mit Blick auf die gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung zu Besitzeinweisungen zunächst einmal keine Besonderheiten (vgl. zur Einordnung der einstweiligen Entscheidung unseren früheren Beitrag). Der 4. Senat des BVerwG hat darüber hinaus in einem einstweiligen Beschluss vom 22.06.2023 wesentliche Aspekte unter Bezugnahme auf den Beschluss des 7. Senats vom 10.02.2023 auch noch einmal bestätigt. Konkret ging es im Verfahren des 4. Senats ebenfalls um eine energiewirtschaftsrechtliche Besitzeinweisung, allerdings für eine Höchstspannungsleitung. Der 4. Senat hat sich hinsichtlich der erstinstanzlichen Zuständigkeit des BVerwG dem 7. Senat angeschlossen und bleibt auch bei der Auslegung der Dringlichkeits- und der Weigerungsvoraussetzung nach § 44b Abs. 1 EnWG auf einer Linie. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Feststellung, dass Angriffe gegen die Planfeststellung für die Besitzeinweisung unbeachtlich sind.

Bemerkenswert ist, dass das BVerwG in dem hier besprochenen Urteil für die vor-vorzeitige Besitzeinweisung nach § 44b Abs. 1a EnWG keine prognostische Rechtmäßigkeitsprüfung des zu erwartenden Planfeststellungsbeschlusses durch die Enteignungsbehörde fordert. In seinem Beschluss vom 10.02.2023 hatte es hierzu nichts ausgeführt. Auch wenn – soweit ersichtlich – zu dieser Frage bislang noch keine Rechtsprechung ergangen ist, wird eine derartige Prognose in der Literatur für erforderlich gehalten. Die entsprechenden Fundstellen gibt das BVerwG selbst an. In der Praxis wird in der Regel seitens der Enteignungsbehörde eine Stellungnahme zum Ausgang des Planfeststellungsverfahrens bei der Planfeststellungsbehörde angefragt. Selbst dies wird nach der Entscheidung des BVerwG aber nicht mehr erforderlich sein.

Erwähnenswert ist ferner, dass das BVerwG in dem hier besprochenen Urteil ausdrücklich feststellt, dass der maßgebliche Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit derjenige des Erlasses des Besitzeinweisungsbeschlusses ist. Zwar entspricht dies dem prozessualen Grundverständnis in Anfechtungssituationen. Allerdings hat der 9. Senat des BVerwG in Bezug auf eine flurbereinigungsrechtliche Besitzeinweisung auch schon einmal angenommen, dass es sich um einen Dauerverwaltungsakt handele, bei dem für die rechtliche Beurteilung grundsätzlich die jeweils aktuelle Sach- und Rechtslage maßgeblich ist. In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird allerdings regelmäßig angenommen, dass der Zeitpunkt des Erlasses des Besitzeinweisungsbeschlusses maßgeblich ist.

Praxisbedeutung

Die Entscheidung des BVerwG ist zu begrüßen. Das Gericht verfestigt und verfeinert die im Rahmen der vorzeitigen Besitzeinweisung geltenden rechtlichen Maßstäbe auf höchstrichterlicher Ebene weiter. Erfahrungsgemäß werden gerade im Verfahren der vor-vorzeitigen Besitzeinweisung umfangreiche Rügen gegen die Planfeststellung erhoben und bisweilen ganze Schriftsätze aus dem Anhörungsverfahren in Stellungnahmen zum Besitzeinweisungsverfahren einkopiert. Mit derartigem Vortrag braucht sich die Enteignungsbehörde nun von vornherein nicht mehr zu befassen. Zudem wird die Planfeststellungsbehörde von der Erstellung der Rechtsmäßigkeitsprognose für das vor-vorzeitige Besitzeinweisungsverfahren befreit. Dies schafft zeitliche Freiräume bei der Planfeststellungsbehörde und beschleunigt das Besitzeinweisungsverfahren, weil nicht mehr auf die Auswertung der Einwendungen und Stellungnahmen im Anhörungsverfahren gewartet werden muss.

Auch die höchstrichterliche Feststellung, dass es bei Besitzeinweisungsbeschlüssen für die Beurteilung der maßgeblichen Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt des Erlasses ankommt, ist zu begrüßen. Denn hierdurch wird der Gleichlauf zwischen Planfeststellungsbeschluss und Besitzeinweisungsbeschluss gewahrt. Im Falle eines Auseinanderlaufens bestünde andernfalls die Gefahr von Friktionen und Widersprüchen im Hinblick auf die enteignungsrechtliche Vorwirkung der Planfeststellung. So wird insbesondere der für die Eigentumsinanspruchnahme erforderliche Gemeinwohlzweck verbindlich auf der Ebene der Planfeststellung geprüft. Er darf im Rahmen der enteignungsrechtlichen Vorwirkung, die auch für die Besitzeinweisung gilt, von der Enteignungsbehörde nicht mehr hinterfragt werden. Dies könnte aber in Zweifel gezogen werden, wenn unterschiedliche Zeitpunkte für die maßgebliche Sach- und Rechtslage gelten würden.

Dieser Beitrag ist auch Gegenstand des juris PraxisReports Umwelt- und Planungsrecht 4/2024.

Ansprechpartner

Janosch Neumann

Öffentliches Recht und Vergabe, Bauen und Immobilien

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